| Die Entdeckung neuer Genotyp-Phänotyp-Assoziationen bei seltenen Erkrankungen sowie die Identifizierung der zugrundeliegenden Pathomechanismen stellen entscheidende Schritte auf dem Weg zu einem diagnostischen Erfolg dar und können zudem als Ausgangspunkt zur Entwicklung therapeutischer Maßnahmen dienen. Die Feststellung, ob und welche Auswirkungen zuvor unbekannte genetische Varianten auf den Phänotyp haben, stellt eine große Herausforderung bei der Varianteninterpretation bzw. der Diagnosestellung dar. Eine wichtige Rolle dabei spielen die computergestützte Varianten-Annotation, sowie Software-Tools zur Vorhersage möglicher Auswirkungen neuer Varianten.
Im Zuge dieser Dissertation konnten wir zwei zuvor unbekannte, krankheitsverursachende Mutationen identifizieren und charakterisieren. Beide Mutationen weisen eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit auf: Die vorhergesagten Auswirkungen der Varianten stimmten nicht mit dem beobachteten Phänotyp der betroffenen Personen überein. Beide Varianten werden anhand der Annotation und in silico Vorhersage mit einem vollständigen Funktionsverlust (engl. Loss-of-function bzw. LOF) des betroffenen Gens assoziiert. Die Varianten betreffen zudem jeweils ein Gen mit bekannter Pleiotropie. Wir konnten zeigen, dass der vorhergesagte Funktionsverlust beider Varianten durch alternative Genexpressionsmechanismen umgangen wird.
In der ersten Studie dieser Dissertation wurde die zuvor unbekannte, homozygote, Frameshift-Variante c.28_29insA, p.(Leu10Tyrfs*37) in ZMPSTE24 bei betroffenen Personen aus zwei pakistanischen Familien nachgewiesen. Anhand der in silico Vorhersagen, wird die entdeckte Variante mit einem vollständigen Funktionsverlust des ZMPSTE24-Gens assoziiert. Ein vollständiger, biallelischer Funktionsverlust dieses Gens ist ursächlich für die Restriktive Dermopathie (RD), welche bei betroffenen Säuglingen meist bereits innerhalb der ersten Lebenswoche zum Tod führt. Die betroffenen Personen der untersuchten Familien wiesen jedoch den progeroiden Phänotyp Mandibuloakrale Dysplasie mit Typ B Lipodystrophie (MADB) auf. Diese Erkrankung wird durch biallelische ZMPSTE24-Mutationen verursacht, die zu einer stark reduzierten Enzymaktivität des ZMPSTE24 Proteins führen. Anschließend durchgeführte Expressions- und Lokalisationsexperimente zeigten, dass der vorhergesagte vollständige Funktionsverlust des mutierten Gens durch die Nutzung von zwei N-terminalen, alternativen Translations-Initiationsstellen umgangen wird, was mit dem beobachteten Phänotyp der betroffenen Personen übereinstimmt. Bemerkenswert ist, dass eines dieser alternativen Startcodons an der Mutationsstelle der Frameshift-Variante neu entstanden ist. Diese Konstellation wurde unseres Wissens nach noch nicht als LOF-Umgehungsmechanismus in der Literatur beschrieben.
In der zweiten Studie dieser Dissertation wurde eine bisher nicht beschriebene, heterozygote 22q12.1-Deletion bei einem Fetus mit schweren zerebralen Fehlbildungen nachgewiesen. Die Deletion betrifft das MN1-Gen, einschließlich des gesamten letzten Exons 2, sowie das lncRNA Gen CPMER, einschließlich des gesamten ersten Exons. Der aufgrund der Deletion erwartete Funktionsverlust eines MN1-Allels wäre mit überwiegend unspezifischen Phänotypauffälligkeiten, ohne Vorkommen von zerebralen Fehlbildungen, sowie einer unvollständigen Penetranz assoziiert, was auch in diesem Fall zu einer Genotyp-Phänotyp-Diskrepanz führt. Die durchgeführten RNA-Analysen deuten darauf hin, dass der erwartete LOF-Effekt durch die Expression von MN1-CPMER-Fusionstranskripten umgangen wird. Die Expression der C-terminal verkürzten MN1-Proteine, die anhand der nachgewiesenen RNA-Sequenzen vorhergesagt wurden, wird mit dem MN1-C-terminalen Trunkierungssyndrom (MCTT Syndrom) assoziiert. Bei diesem Syndrom werden unter anderem strukturelle Gehirnanomalien beschrieben. Eine Genfusion eines protein-kodierenden Gens mit einem nicht-kodierenden Gen in der Keimbahn als LOF-Umgehungsmechanismus in Verbindung mit einer Krankheitsassoziation, wurde unseres Wissens nach ebenfalls noch nicht in der Literatur beschrieben.
Mit dieser Arbeit wollen wir das Bewusstsein für die Möglichkeit alternativer Genexpressionsmechanismen bei der Varianteninterpretation schärfen und die Notwendigkeit aufzeigen, (Standard-) Annotationspipelines in diesem Zusammenhang zu verbessern. Darüber hinaus wollen wir die Wichtigkeit von zusätzlichen in-depth Analysen und weiterführenden Experimenten zur Feststellung der Auswirkungen von Kandidatenvarianten hervorheben.
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